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Hohe Zahl von Neuntklässlern haben Förderbedarf im Lesen und/oder Rechtschreiben

Bild: K.Enderle

Die Pädagogische Hochschule Weingarten hat eine Studie zum Bildungsabbruch an Gemeinschaftsschulen, Hauptschulen, Werkrealschulen und Realschulen in Baden-Württemberg durchgeführt. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Bis zu 70,7 % der Neuntklässler:innen hatten Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben.

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Die hohe Zahl der Bildungsabbrecher:innen war und ist für die Pädagogische Hochschule Weingarten ein Thema von besonderem Interesse. Im Abgangsjahr 2019 haben in Deutschland insgesamt 52.833 Personen als Schulabgänger ohne einen Hauptschulabschluss eine allgemeinbildende Schule verlassen, davon 6.281 in Baden-Württemberg (231 im Landkreis Ravensburg). Der Pädagogischen Hochschule Weingarten ist es ein Anliegen, diese aktuellen Zahlen und Entwicklungen in der Ausbildung von Lehrer:innen einzubinden. Zielsetzung der Studie „Bildungsabbruch“ der PH Weingarten war es, all diejenigen Personen zu befragen, die aus wissenschaftlicher Perspektive in einen Bildungsabbruch involviert sein könnten.

„Wir haben in unserer Studie nicht den Eindruck gewonnen, dass es den Schüler:innen an einer positiven Selbsteinschätzung der eigenen Leistung fehlt oder die soziale Eingebundenheit zu niedrig ist. Insgesamt sind die Daten zur Motivation aus unserer Sicht eine gute Basis für eine erfolgreiche Förderung.“

Prof. Dr. Cordula Löffler und Prof. Dr. Michael Henninger

Von September bis November 2019 wurden Daten (Rechtschreibung, Lesen, Motivation) von 862 Neuntklässler:innen an Gemeinschaftsschulen, Hauptschulen, Werkrealschulen und Realschulen erhoben. Die für die Studie notwendige Vor-Ort-Präsenz der Wissenschaftler:innen wurde durch ein von Hymer zur Verfügung gestelltes Reisemobil wesentlich erleichtert. Im Herbst 2020 folgte eine zweite Datenerhebung bei 417 Neuntklässler:innen. Pandemiebedingt wurden die Testmaterialien via Post verschickt und die Erhebung erfolgte an den Schulen mit telefonischer Unterstützung.

Im Jahr 2019 zeigte sich, dass 70,7 % der Neuntklässler:innen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben hatten, davon 54,2 % im Lesen oder Rechtschreiben und 16,5 % in beiden Bereichen. Für das Jahr 2020 wurden 61,3 % der Neuntklässler:innen mit Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben ermittelt, 55 % zeigten in einem Bereich Schwierigkeiten, 6,3 % im Lesen und Rechtschreiben. Somit besteht bei einer Mehrzahl der untersuchten Neuntklässler:innen, die kurz vor ihrem ersten möglichen Schulabschluss stehen, ein Förderbedarf im Lesen und/oder Rechtschreiben. „Die sehr hohe Anzahl von Schüler:innen mit Förderbedarf kurz vor Ende ihrer Schulpflicht ist alarmierend“, sagt Prof. Dr. Cordula Löffler, die gemeinsam mit Prof. Dr. Michael Henninger die Studie leitet. „Es bestärkt uns darin, unseren Studierenden Kompetenzen für die Diagnose und Förderung von Lese- und Rechtschreibfähigkeiten zu vermitteln, damit sie in der Lage sind, Schwierigkeiten möglichst früh zu erkennen und Schüler:innen gezielt zu unterstützen.“

Die ausgewerteten Daten im Lesen und Rechtschreiben wurden den betreuenden Lehrkräften umgehend zur Verfügung gestellt, um entsprechende Fördermaßnahmen einleiten und die Neuntklässler:innen vor dem Schulabschluss passgenau unterstützen zu können. Hierdurch sollten die Schüler:innen eine sichere Basis im Lesen und Rechtschreiben erhalten, um mit den notwendigen Kompetenzen in beiden Bereichen weiter die Schule zu besuchen oder einen gelungenen Übergang in das Berufsleben und an die Berufsschule zu schaffen.

Neben den Lernerfolgs- und Leistungsdaten wurde im Rahmen der Studie untersucht, inwieweit motivationale Faktoren einen Einfluss auf den Bildungserfolg haben. Dazu wurden unter anderem Daten zur Zufriedenheit im Kompetenzerleben, zum Autonomieerleben und zur sozialen Eingebundenheit der Neuntklässler:innen erhoben, da die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse die Motivation der Schüler:innen beeinflusst. Schule als Lernumwelt kann förderlich auf die Motivation der Lernenden wirken. Können Lernende beispielsweise Aktivitäten frei wählen, so wird ihr Grundbedürfnis nach Autonomie befriedigt, was sich u.a. hinsichtlich ihrer Motivation positiv auswirkt. Die Jugendlichen wurden u.a. gefragt, wie zufrieden oder unzufrieden sie im Unterricht sind bezüglich der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse nach Autonomie (Einfluss auf Lernumfeld und Lernangebote) Kompetenzerleben (Selbst- und Fremdeinschätzung der eigenen Leistung) und sozialer Eingebundenheit (Beziehungsqualität in der Schule).

Für die Erhebungen der Jahre 2019 und 2020 können auch erste Aussagen bezüglich der Häufigkeitsverteilung im Erleben der einzelnen Faktoren gemacht werden: 2019 für Neuntklässler:innen (N = 559 komplette Datensätze) der Land- und Stadtkreise Bodensee-Oberschwaben, Mannheim, Ravensburg, Rems-Murr, Stuttgart und Ulm; 2020 für Neuntklässler:innen (N = 191 komplette Datensätze) für die Landkreise Hohenlohe, Konstanz, Rhein-Neckar und Schwäbisch Hall. Durchschnittlich zeigte sich, dass die Neuntklässler:innen im Jahr 2019 und 2020 jeweils mit einem Mittelwert bei M = 2.72 Skalenpunkten (Skalierung: 0 = trifft überhaupt nicht zu bis 4 = trifft voll und ganz zu) in beiden Jahren bezüglich der erlebten sozialen Eingebundenheit im Durchschnitt vor und während der Pandemie insgesamt zufrieden waren. Die Standardabweichung (Abweichung vom Durchschnitt) ist bei den Merkmalen durchgehend gering und fällt für die Zufriedenheit bezüglich der sozialen Eingebundenheit mit fast einem Punkt Unterschied im Jahr 2020 am größten aus.

Ursächlich hierfür könnten möglicherweise die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen sowie die damit einhergehenden Schulschließungen bzw. die erneuten Öffnungen im Herbst 2020 sein. Zur Zufriedenheit bezüglich des Kompetenzerlebens weisen die Daten aus dem Jahr 2020 auf eine tendenziell höhere Zufriedenheit im Kompetenzerleben hin; die untersuchten Neuntklässler:innen waren zufrieden damit, wie sie selbst ihre Aufgaben im Unterricht bewältigen.

Die vorliegenden Daten werden in den kommenden Monaten weiter ausgewertet. Vor allem im Bereich der Motivation möchten Michael Henninger und Cordula Löffler weiter differenzierte Auswertungen durchführen.

Mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) in Form einer Abordnungsstelle sowie Sponsoren (Hymer, Gebhart Stiftung, Senat der Wirtschaft, Fischer Dübel, Stiftung Kreissparkasse Ravensburg, Rotary-Club Ravensburg-Weingarten, Hogrefe AG, Klett Verlag) gelang es der Pädagogische Hochschule Weingarten, zu erforschen, wie viele Schüler:innen in Baden-Württemberg von Bildungsabbruch bedroht sind.

Diese Ergebnisse fließen in die Lehrerbildung an der PH Weingarten ein. Die Veröffentlichung (Prof. Dr. Cordula Löffler, Prof. Dr. Michael Henninger, Dr. Walter Döring, Dr. Julia Fischer) mit dem Titel „Bildungsabbrüche als gesellschaftliche und pädagogische Herausforderung. Empirische Evidenzen am Beispiel Baden-Württemberg“ erschien im Weingartner Dialog über Forschung Bd. 5, herausgegeben von Gregor Lang-Wojtasik und Stefan König.

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