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Giegold fordert Europa der sozialen Sicherheit

Bild: B90/Die Grünen

Ein bisschen Sorge hatten die Ravensburger Grünen schon: am selben Abend, an dem ihr Europa-Spitzenkandidat Sven Giegold im Waldhorn zu Gast war, sprach nur wenige Meter weiter im Schwörsaal niemand Geringeres als die amtierende Bundeskanzlerin. Würde der Saal trotzdem voll werden? Die Frage war noch vor Beginn der Veranstaltung beantwortet. Stühle mussten hereingetragen werden, um die mehr als 100 Interessierten unterzubringen, die bei Sven Giegold dabei sein wollten. Volle Säle also auf beiden Seiten des Marienplatzes, aber der Unterschied vor den Sälen hätte nicht größer sein können. Hier der Fuhrpark aus schwarzen Limousinen und jeder Menge Polizeiautos, dort ein einsames Elektroautolein.

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„Townhall“ war angesagt, ein Format, das dem rhetorisch brillanten Giegold hörbar lag. Auf spontane Publikumsfragen antwortete er ebenso spontan. Gewohnt souverän moderiert von der Kreisvorsitzenden Carmen Kremer schwang Giegold keine langatmigen Reden, wich nicht aus, sondern griff die Fragen auf, stellte sie mit seinem ungeheuren Faktenwissen in einen größeren Zusammenhang, erörterte das Für und Wider, und argumentierte mit druckreifen Zitaten und sendefertigen O-Töne in 90-Sekunden-Länge für das Wahlprogramm seiner Partei: „Dafür stehen wir Grünen“. Zum Beispiel für die Ausweitung des Erasmus-Programms über Studierende hinaus auf alle Auszubildenden: „Erasmus ist die größte Investition in den Zusammenhalt Europas“. Für eine europäische Kartellbehörde: „Wenn wir marktbeherrschende Monopolisten zulassen, haben wir am Ende schlechte Produkte zu überteuerten Preisen“. Oder dafür, dass „Brüssel“ tatsächlich nur das regelt, was sinnvoller Weise auf europäischer Ebene zu regeln sei: „Mein Motto ist: Halt die Schnauze Brüssel, wenn es lokal geregelt werden kann“.

Giegold nutzte die räumliche Nähe der Kanzlerin, um immer wieder die von ihr geführte Große Koalition als Großen Europäischen Bremser zu entlarven, ließ sich aber nie zu persönlichen Angriffen verleiten. Nur bei einem Thema attackierte er die Kanzlerin ganz direkt. Sie versuche, die Jugendlichen von Fridays for Future einzulullen und spiele ihnen nur vor, sie ernst zu nehmen. Giegold: „Den Kids rufe ich zu: Lasst Euch nicht besänftigen mit dem Versprechen eines Kohleausstiegs irgendwann, sondern fragt: wann wir das nächste Kraftwerk abgeschaltet?“

Giegold verteidigte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung. Das sei vor allem dort nötig, wo Arbeitgeber ihre Belegschaft schlecht behandelten. Arbeitszeiten zu dokumentieren, sei kein riesiger bürokratischer Mehraufwand: „Auch beim Mindestlohn haben viele gemeint, die Welt geht unter“. Auch die maßgeblich auf Betreiben der Grünen eingeführte Datenschutz-Grundverordnung sei nicht in erster Linie bürokratischer Mehraufwand: „In Frankreich hat sich darüber niemand aufgeregt“. Die Verordnung sei im Gegenteil ein großer Fortschritt: „Wir schaffen es damit, unsere Werte auch gegenüber den mächtigsten Unternehmen der Welt durchzusetzen“. Arbeitnehmerrechte europaweit zu schützen, sei ein Kernanliegen der Grünen: „Die Öffnung der Märkte regulieren wir verbindlich, aber die sozialen und ökologischen Standards bleiben unverbindlich. Das Europa der wirtschaftlichen Freiheit haben wir schon, aber jetzt brauchen wir das Europa der sozialen Sicherheit.“.

Der studierte Wirtschaftswissenschaftler und Mitbegründer von Attac, dessen Fachgebiet die Steuer- und Wirtschaftspolitik ist, machte die Große Koalition als Verhinderer einer echten Finanztransaktionssteuer aus. Es sei nicht vermittelbar, dass Menschen, die für die Vermehrung ihres ohnehin schon großen Kapitals keinen eigenen Arbeitseinsatz bringen müssten, Vorteile gegenüber denen hätten, die von ihrer Arbeitskraft leben: „Vermögenserträge geringer zu besteuern als Arbeitseinkünfte nährt die soziale Ungleichheit“.

Giegold wies die Behauptung zurück, das Europäische Parlament könne nichts durchsetzen. „Im Gegenteil. Es hat Macht. Warum sonst wohl sind in Brüssel 20.000 Lobbyisten unterwegs?“ Längst habe das Parlament ein „faktisches Vorschlagsrecht“. Giegold nannte beispielhaft den Schutz von Whistleblowern, den das Parlament gegenüber der Kommission durchgesetzt habe. Es gehe nun darum, das Parlament weiter in seinen Kompetenzen zu stärken.

Giegold ging auch auf die Gegner des Europäischen Projekts ein, sowohl auf die Regierungen in Polen und Ungarn als auch auf die rechtspopulistischen Parteien. Auch deshalb sei die Wahl am 26. Mai alles andere als eine „Spaßwahl“. Es gehe darum, die pro-europäischen Kräfte zu bestätigen und zu stärken: „Wenn wir zulassen, dass Mitgliedsländer unsere Werte mit Füßen treten, dann glaubt uns bald niemand mehr, dann verliert Europa seine Seele.“

Die Frage, ob Europa nicht „schon sein Endspiel spielt“, wies Giegold entschieden zurück. „Mit Endzeitrhetorik erzeugen wir irgendwann Hoffnungslosigkeit. Mut wächst nicht aus der Angst vor der Endzeit“. Sprach’s, verteilte Liedblätter und sang mit dem ganzen Saal die Europa-Hymne, Beethovens Ode an die Freude.

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