In ihrer Herbstsitzung in Sigmaringen beschäftigten sich die Mitglieder der Vollversammlung der Industrie- und Handelskammer Bodensee-Oberschwaben schwerpunktmäßig mit dem Thema Energie und einem möglichen Plan B für die Energiewende.
Grundlegende Reformen zur Stärkung der Wirtschaft mahnte Martin Buck, Präsident der Industrie- und Handelskammer Bodensee-Oberschwaben (IHK), in seiner Begrüßung der Vollversammlungsmitglieder an. Das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der Regierung sinke immer mehr, die Maßnahmen zur Bürokratieentlastung zeigten bislang zu wenig Wirkung, zunehmende Belastungen schwächten die Wirtschaft und es gebe weiterhin keine Planungssicherheit in vielen Bereichen. „Der Handlungsbedarf wird immer größer – statt eines Abbaus nehmen Auflagen und Bürokratie in der betrieblichen Praxis aber weiter zu“, kritisierte Buck. Fehlende starke politische Mehrheiten bedingten einen gefährlichen Reformstau. „Warum ist es politisch so schwer, Dinge zu ändern, die schlecht sind?“, fragte der IHK-Präsident. Eine große Mehrheit der Bürger sehe einen großen Reformbedarf in Deutschland. Laut einer aktuellen Umfrage hielten mehr als 80 Prozent grundlegende Reformen für nötig. Doch nur eine Minderheit sei bereit, damit verbundene Lasten zu tragen. Die Wirtschaft zeige Bereitschaft, unbequeme Entscheidungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts und der Wettbewerbsfähigkeit mitzutragen.
Viele Jugendliche und junge Erwachsene fänden Umfragen zufolge Wirtschaftsthemen spannend, aber schwer zu verstehen und zu kompliziert, so Buck weiter. Mehr Bildungsangebote in diesem Bereich seien zwingend erforderlich. Demokratie funktioniere nur, wenn Zusammenhänge verstanden, verschiedene Sichtweisen akzeptiert und unterschiedliche Positionen zu Gehör gebracht würden. Wissen, Durchsetzungsvermögen und Kompromisse seien hierfür wichtige Voraussetzungen.
Neue Wege für die Energiewende
Schwerpunktmäßig beschäftigten sich die Mitglieder der Vollversammlung mit dem Thema Energie und einem möglichen Plan B für die Energiewende, die mit vielen Hürden zu kämpfen hat: Elektrifizierung, Wasserstoff, Carbon-Management, aber auch hohe Kosten, fehlende Fachkräfte, technische Engpässe und Akzeptanzprobleme – der Transformationspfad birgt zahlreiche Risiken für die Unternehmen. Vor diesem Hintergrund beauftragte die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) Frontier Economics in Zusammenarbeit mit Global Energy Solutions, eine Studie „Plan B“ zu entwickeln: Welche Alternativen gibt es, wenn der eingeschlagene Weg ins Stocken gerät? Welche Kosten lassen sich vermeiden? Welche Weichenstellungen sind jetzt entscheidend? Dr. Johanna Reichenbach und Gregor Brändle, Frontier Economics, stellten den Vollversammlungsmitgliedern die wissenschaftliche Studie vor.
Die Energiewende in ihrer aktuellen Ausgestaltung führe langfristig zu massiven Kostenbelastungen für Unternehmen und Haushalte, die mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland nur schwer zu vereinbaren seien, so Dr. Reichenbach. Sollte die Energiepolitik so fortgeführt werden, müssten sich die jährlichen privaten Investitionen in den Sektoren Energie, Industrie, Gebäude und Verkehr mehr als verdoppeln – von rund 82 Milliarden Euro im Mittel der Jahre 2020 bis 2024 auf mindestens 113 bis 316 Milliarden Euro im Jahr 2035. „Das bedeutet im Mittel 184 Milliarden Euro.“ Auch im Energiebereich werden die Kosten laut Studie weiter deutlich steigen: Bei einer Beibehaltung des bisherigen Pfades gehen die Experten für den Zeitraum 2025 bis 2049 von geschätzten Energiegesamtsystemkosten in Höhe von rund 4,8 bis 5,3 Billionen Euro aus. Die von der Umsetzung der Energiewende getriebene Bürokratie – der Index sei nach dem Statistischen Bundesamt seit 2021 um rund 30 Prozent gewachsen – verursache zudem allein auf Bundesebene geschätzt jährlich rund 10 Milliarden Euro, so Dr. Reichenbach weiter. Neben den finanziellen Belastungen bestünden durch lange Planungs- und Genehmigungsverfahren Engpässe bei Fachkräften, Material und Flächen weitere Umsetzungsrisiken.
Es sei Zeit für einen neuen Weg, gab Gregor Brändle zu bedenken. Er stellte den Plan B der Studie vor. Das neue Konzept für die Energiewende basiere auf einem einfachen, auf Innovation und Wettbewerb setzenden Politikrahmen, der die Transformation zu einer defossilisierten Volkswirtschaft mit der Sicherung von Wohlstand, Resilienz und einem global wirksamen Klimaschutz bestmöglich vereine, so Brändle. Kern des Ansatzes ist ein Cap-and-Trade-System, das sämtliche THG-Emissionen (Treibhausgasemissionen) über alle Sektoren hinweg abdeckt. Dabei wird ein Zertifikatsbudget für alle emittierten Treibhausgase festgelegt. Das Budget wird auf Basis eines festgelegten Zielpfads kalkuliert, kann aber dann innerhalb des Zeitraums bis zum Erreichen von Klimaneutralität zeitlich möglichst frei genutzt werden. „Das Budget berücksichtigt auch Negativemissionen sowie die Nutzung anerkannter internationaler Zertifikate“, erklärte Brändle. Neben dem zentralen Cap-and-Trade-System übernehme der Staat nur klar abgegrenzte Aufgaben, etwa im Fall von Marktversagen oder Koordinationsbedarf. Mit dem Konzept werden laut Brändle zwei Ziele verfolgt: die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit und eine Vermeidung von Carbon Leakage sowie internationale Anreize für mehr Klimaschutz.
Allein durch eine effiziente Neuausrichtung der Energiewende – bei identischen Treibhausgasemissionen in Deutschland – könnten laut Studie die Gesamtsystemkosten der Energiewende bis zum Jahr 2050 um mindestens 530 bis 910 Milliarden Euro gesenkt werden. Die Einsparungen entstünden durch zwei zentrale Hebel, so Brändle: Zum einen öffne das Konzept den Lösungsraum für alle zur Verfügung stehenden emissionsarmen Technologieoptionen und ermögliche einen effizienteren Technologiemix. Zum anderen erlaube es die Abkehr von starren jahresscharfen Zwischenzielen hin zu einem sektorenübergreifenden Emissionsbudget. Zusätzliche Einsparpotenziale entstünden durch einen dritten großen Hebel – eine stärkere globale Verzahnung der Klimaschutzbemühungen. Insgesamt seien durch das Konzept – je nach Nutzungsgrad der internationalen Kooperation – Einsparmöglichkeiten von potenziell weit über einer Billion Euro bis zum Jahr 2050 möglich, so Brändles Fazit.
Beschlussfassungen
Auch wichtige Beschlussfassungen als Grundlage für die politische Interessenvertretung standen auf der Tagesordnung der Vollversammlung: Mit nur einer Enthaltung wurde das DIHK-Positionspapier „Wirtschaft und Verteidigung – Herausforderungen in neuer sicherheitspolitischer Lage“ verabschiedet. Einstimmig beschlossen die Mitglieder zudem die „Wirtschaftspolitischen Positionen – BWIHK-Impulse für die 18. Legislaturperiode“.
Bei nur einer Enthaltung erteilten die Mitglieder der Vollversammlung auch der Aktualisierung der Position zu einem möglichen Biosphärengebiet in der Region ihre Zustimmung. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht kann die Vollversammlung demnach keine Empfehlung für die Errichtung eines Biosphärengebiets aussprechen. Auf Basis der aktuellen Weiterentwicklungen, neuer Erkenntnisse und zusätzlicher Informationen sei eine Neubewertung der Chancen-Risiko-Analyse erfolgt, berichtete IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Sönke Voss. Hierbei seien angepasste Eintrittswahrscheinlichkeiten sowie mögliche positive wie auch negative Auswirkungen betrachtet und zahlreiche Perspektiven angehört worden – mit dem Ergebnis, dass ein mögliches Biosphärengebiet in Bezug auf Wirtschaft und Nachhaltigkeit zwar unter bestimmten Bedingungen ein ausgewogenes Chancen-Risiko-Verhältnis aufweise, die Chancen jedoch mit den vorhandenen Strukturen sowie über etablierte Förderprogramme ohne die Kulisse eines Biosphärengebiets realisiert werden könnten.
Personelle Veränderungen
In der Herbstsitzung der Vollversammlung wurde Hanspeter Mürle, Vorstand Finanzen & Supply Chain der Ravensburger AG, als neues Vollversammlungsmitglied verpflichtet. Er rückt für Heinz Pumpmeier, früherer Vorstandsvorsitzender der Kreissparkasse Ravensburg, nach, der sich in den Ruhestand verabschiedet hat.
Für den ausgeschiedenen Heinz Pumpmeier wurde Vollversammlungsmitglied Oliver Riedinger, besonders Bevollmächtigter der Deutschen Bank AG, als ehrenamtlicher Rechnungsprüfer nachberufen. Eine Nachberufung gab es auch für den IHK-Steuerausschuss: Nach dem Ausscheiden eines Mitglieds arbeitet Steuerberaterin Susanne Buerkle in diesem künftig mit. Beiden Nachberufungen erteilten die Mitglieder der Vollversammlung einstimmig ihre Zustimmung.


