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Syrien: Handwerkskammer Ulm warnt vor voreiligen Rückkehrforderungen

Bild: www.amh-online.de

Betriebe zwischen Ostalb und Bodensee sind auf Zuwanderung angewiesen – Migranten aus Syrien schließen jetzt schon wichtige Beschäftigungslücke in der Region und sind fester Teil von Betrieben und Gesellschaft

Nach dem Machtwechsel in Syrien wird aktuell über den Umgang mit syrischen Geflüchteten in Deutschland diskutiert. Das regionale Handwerk warnt in diesem Zusammenhang vor einer überstürzten Debatte in der Migrationspolitik und voreiligen Rückkehrforderungen. „In unseren Betrieben haben wir in den letzten fünf bis sieben Jahren rund 260 junge Menschen allein aus Syrien zu Fachkräften ausgebildet. Sie sind ein wichtiger Bestandteil unserer Belegschaften und Betriebe. Sie sorgen so jeden Tag für die Abarbeitung der Aufträge und die Erfüllung der Kundenwünsche. Eine voreilige und undifferenzierte Rückführung würde unsere Handwerksbetriebe schwächen“, so Dr. Tobias Mehlich, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Ulm. Die Ulmer Kammer sieht vor allem den Zeitpunkt der angestoßenen Diskussion kritisch: „Dass bereits wenige Stunden nach der Entmachtung des Regimes eine derartige Diskussion begonnen hat, ist auch kein verantwortungsvoller Umgang mit den Menschen. Hunderttausende Syrerinnen und Syrer haben in den vergangenen Jahren nicht mit gepackten Koffern gewartet, sondern haben sich hier – wie auch Zuwanderer aus anderen Ländern – angestrengt, haben Steuern und Sozialversicherungen bezahlt und sind vielfach ein wichtiger Teil in unseren Betrieben geworden“, so Mehlich.

Viele in Deutschland lebende Syrer sind jung, haben den Großteil ihrer Jugend in Deutschland verbracht oder sind hier geboren. Das Handwerk setzt seit Jahren Hoffnung auf Zuwanderer und demzufolge auch auf syrische Migranten, gerade in der Ausbildung: Fast die Hälfte all derjenigen mit Fluchthintergrund, die bundesweit eine berufliche Ausbildung machen, machen diese laut Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) im Handwerk. 2023 waren das knapp 8.400 Menschen – etwa 2,5 Prozent aller Azubis im Handwerk. Das deckt sich auch mit den Zahlen aus dem Ulmer Kammergebiet: Zwischen Ostalb und Bodensee hatten im vergangenen Jahr 159 Auszubildende die syrische Staatsangehörigkeit, das entspricht ebenfalls rund 2,5 Prozent aller Azubis. Im Jahr 2019, also vor Corona, waren es 212 Azubis syrischer Herkunft (2,7 Prozent), die eine handwerkliche Lehre begonnen haben. Betriebe, die syrische Geflüchtete oft mit erheblichem Aufwand und Engagement ausbilden oder beschäftigen, brauchen Planungssicherheit. Betriebsinhaberinnen und -inhaber erwarten, dass sie ihre syrischen Beschäftigten dauerhaft als wichtige qualifizierte Fachkräfte weiter beschäftigen können. „Die Personalplanung in unseren Betrieben kann doch nicht von der Weltpolitik eines Tages abhängen und jedes Mal nach der Tagesschau wieder infrage gestellt werden. So werden wir eine Willkommenskultur nicht schaffen und als Land nicht interessant für engagierte Zuwanderung“, sagt Mehlich.

 Dringend benötigte Azubis und Fachkräfte im Handwerk
Bereits die aktuelle Rückführungsdebatte ist aus Sicht der Handwerkskammer Ulm eine Enttäuschung für Menschen syrischer Herkunft, die in Deutschland Schutz gefunden haben und Teil unserer Gesellschaft geworden sind. Zugewanderte aus dem kriegsgebeutelten Land werden in der Region dringend als Fachkräfte benötigt. Im Gebiet der Handwerkskammer Ulm gibt es derzeit noch mehr als 500 offene Lehrstellen. Davon befinden sich 58 im Alb-Donaukreis, 69 im Landkreis Biberach, 42 im Bodenseekreis, 20 im Kreis Heidenheim, 130 im Ostalbkreis, 134 im Kreis Ravensburg und 56 im Stadtgebiet Ulm.

 

Syrerinnen und Syrer sind meist in Branchen tätig, die ohne sie mit noch stärkerem Personalmangel zu kämpfen hätten. Die Kammer verweist darauf, dass ihre Betriebe dauerhaft auf Zuwanderung angewiesen sein werden. Gerade im Handwerk ist der Fachkräftebedarf hoch und dieser wird sich in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen. Laut Prognose werden auf dem Arbeitsmarkt bis 2030 aller Voraussicht nach zehnmal mehr Gesellen und Meister fehlen als Akademiker. Insbesondere die Sozial- und Rentensysteme benötigten das Zupacken zugewanderter Arbeitskräfte ebenso wie die Verbraucher für verlässliche und bezahlbare Handwerksleistungen. Mehlich: „Ganz einfach gesagt: wer jetzt nach Rückführung ruft, schwächt unsere Handwerksbetriebe, unsere Sozialsysteme und verteuert mittelfristig die Aufträge der Kunden. Das kann nicht unser Ziel sein.“